Warum übernehmen wir Medien die Zahlen der Polizei 1:1 und riskieren, die Realität zu verzerren?

Wie viele Menschen passen auf eine sechsspurige, etwa drei Kilometer lange Straße? Viele.

Wie viele genau ist offenbar schwer zu schätzen. Das zeigte sich in der Berichterstattung über die zahlreichen AfD-Gegenproteste am 27. Mai in Berlin.

Wer als Berichterstattende*r auf der Straße des 17. Juni unterwegs war und im Anschluss Bild- und Videomaterial aller Demos sichtete, kann nur zu einem Schluss kommen: dass die Zahlen der Polizei  – „bis zu 25.000 Menschen“ auf allen 13 angemeldeten Gegendemos – nicht der Realität entsprechen können. Wer zudem gängige Mapchecking-Tools bemüht (da wird die Eingangsfrage nämlich beantwortet: rund 57.000 Menschen), muss spätestens jetzt sehen: Da stimmt was nicht.

Und trotzdem haben viele große Medienhäuser diese Zahlen der Polizei unwidersprochen genutzt: Spiegel Online, RP Online, Focus Online, die Berliner Morgenpost, die Berliner Zeitung, der Tagesspiegel und der rbb gar in der Headline zu ihren Artikeln.

Das Organisationsbündnis der Gegenproteste sprach von über 70.000 Teilnehmer*innen. Diese Zahl wurde in den meisten Fällen zwar genannt, aber weder so prominent, noch wurde sie als belastbar eingeordnet.

Die Polizei erhebt laut eigenen Angaben keinen Anspruch auf belastbare Zahlen

Am Telefon bestätigt mir Michael Gassen, Sprecher der Polizei Berlin, dass die angegebene Zahl der 25.000 auf Erfahrungs- und Schätzwerten beruht, genau werde aber nicht gezählt, das sei nicht möglich, weil die Fluktuation der Teilnehmer*innen so hoch sei. In der Regel steige die Zahl bei solchen Protesten aber eher, als dass sie sinke, sagt er mir.

„Wir verweisen in der Regel immer auf die Zahlen der Veranstalter“, sagt Gassen, „vor allem wenn sie so stark abweichen.“

Die Polizei erhebe diese Zahlen laut Gassen nicht für die Öffentlichkeit, sondern für den internen, dienstlichen Gebrauch; etwa um Beamt*innen zu koordinieren und etwaige Straßensperren zu evaluieren.

Die Zahl der 25.000 sei ein pauschaler Richtwert gewesen. Dass sie an die Öffentlichkeit kam, sei dumm gelaufen, in der Regel laufe das anders. Weil die Polizei laufend um eine Einschätzung gebeten werde, werden laut Gassen normalerweise Von-bis-Zahlen genannt und, noch einmal: „an die Zahlen der Veranstalter*innen verwiesen.“

Die Veranstalter*innen schlüsseln ihre Zahlen auf

Das Label RSNZRFLXN, Teil des Veranstalter*innen-Bündnisses, haben mir auf Nachfrage ihre eigenen Zählmethoden erklärt.

© Screenshot / Facebook Messanger

Das Bündnis Stoppt den Hass, das mehr oder minder federführend für die gesamten Gegendemonstrationen verantwortlich ist, legte mir seinerseits das Zählvorgehen offen:

Zu unserer Vorgehensweise bzgl. der Veröffentlichung von Teilnehmer*innenzahlen an den gesamten Protest-Aktionen am 27.5. haben wir im Vorfeld vereinbart, um 14h die einzelnen Veranstaltungen abzufragen. Unsere Kontaktpersonen auf den einzelnen Kundgebungen, der Wasserdemo und den Raves wurden gebeten, eine entsprechende Einschätzung zurück zu melden. Bzgl. des Raves und der immens hohen Zahl waren wir selbst (positiv) überrascht und haben mehrfach nachgefragt, um einen Zahlendreher auszuschließen und die Einschätzung von vor Ort dann mit entsprechendem Bildmaterial (Twitter etc.) abgeglichen. Auch an anderen Orten haben wir die Angaben mit Fotos abgeglichen.

Herausgekommen seien dabei dann die folgenden Zahlen, die in abschließenden Pressemitteilungen zu den zitierten 70.000 führten:

© Screenshot Mailverkehr

Fassen wir kurz zusammen:

  1. Die Polizei erhebt ihre Zahlen aus Erfahrungswerten als pauschalen, internen Richtwert für die Einsatzkoordination und verweist an die der Veranstalter*innen.
  2. Die Veranstalter*innen gaben eine genaue Aufschlüsselung der einzelnen Veranstaltungen und legten ihre Zählmethoden offen.
  3. Aus Bildern und Videos lässt sich ableiten, dass weitaus mehr Menschen als 25.000 an den Gegenprotesten teilnahmen, Mapchecking-Tools belegen das.

Trotzdem suggeriert halb Mediendeutschland, die Polizei sei die einzig valide Quelle für Teilnehmer*innen-Zahlen bei Großveranstaltungen. Warum? Doch nicht etwa, weil man das schon immer so gemacht hat?

Teilnehmer*innen-Zahlen sind ein wichtiges Zeugnis für das politische Stimmungsbild

Womöglich ist es an der Zeit, dass wir Journalist*innen unsere Herangehensweise hinterfragen. Es macht einen Unterschied, ob man nun über 25.000 Menschen oder 70.000 oder etwas zwischendrin schreibt. Erst Recht, wenn diese Zahl als „offiziell“ gilt.

Diese Zahl bemisst nicht nur Teilnehmer*innen, sondern den Protestwillen der Bevölkerung, in diesem Fall gegenüber der AfD. Sie beziffert demokratisches Engagement. Diese Zahl zeichnet ein politisches Stimmungsbild, das sich womöglich weit über Deutschland hinaus verbreitet, wie sich am Sonntag zeigte. Selbst Al Jazeera berichtete.

Überschriften sind zudem das erste – und sehr oft auch das einzige –, das Lesende erreicht. So kann allein mit Überschriften Politik gemacht werden, ob uns Medienschaffenden das recht ist oder nicht. Die Tagesschau etwa traf ein Backlash, als sie aus Menschen, die am Sonntag über die Staatsbürgerschaft Mesut Özils, über Auswüchse der Islamisierung diskutierten und Volkslieder sangen, „Systemkritiker“ machte.

Insofern ist es gefährlich, mit fragwürdigen Zahlen zu hantieren – weil sie die Realität verzerren können.

Was tun als Journalist*in bei Großveranstaltungen?

Der Fall weist auf ein Problem bei der Berichterstattung über Großveranstaltungen hin. Er wirft aber auch wichtige und spannende Fragen auf:

  • Welchen Zahlen können (oder sollten) Journalist*innen vertrauen?
  • Ist es zeit- und sinngemäß, von „offiziellen Zahlen“ zu sprechen, wenn wir doch einsatztheoretische Polizeizahlen meinen?
  • Gibt es überhaupt eine Möglichkeit, realitätsgetreu zu berichten?

Eine langjährige Journalistin, Ursula Bub, stellte auf Twitter ebenfalls die Frage:

Würden wir Bubs Beispiel folgen und den Schnitt aus Polizei und Veranstalter*innen als Daumenregel befolgen, kämen wir in diesem Fall auf ungefähr 47.000 Menschen bei den Gegenprotesten zur AfD-Demo in Berlin.

Das ersetzt aber immer noch nicht die journalistische Sorgfaltspflicht, nachzuforschen, zu welchem Zweck Veranstalter*innen ihre Zahlen erheben. Ginge es nach ihnen, soll natürlich die höchstmögliche Zahl publiziert werden. Ebenso sollte ein Auswerten von Bildmaterial fester Bestandteil vor der Berichterstattung sein.

Der Polizei kann unterstellt werden, dass ihr egal ist, welche Zahl an die Öffentlichkeit gerät – sie nutzt sie ja ohnehin nur für sich. Möglich wäre es, den Fokus einmal umzudrehen: Wir könnten künftig die Veranstalter*innenzahlen für die Berichterstattung zu verwenden, sollten wir sie für plausibel einschätzen, aber ein „bis zu“ davor zu setzen. Eine Überschrift hätte dann so ausgesehen: Bis zu 70.000 Menschen stehen bis zu 8.000 AfD-Mitglieder gegenüber.

Das klingt, zumindest in diesem Fall, zumindest eine ganze Spur realistischer als die Polizeieinschätzung. Diese könnte dann im Text erwähnt werden.

Womöglich ist es dann auch gar nicht mehr so wichtig zu wissen, wieviele Menschen auf eine mehrspurige Straße passen.


Transparenzhinweis: In diesem Text wurden ausschließlich die Zahlen der Gegenproteste behandelt, weil hier die weitaus größere Diskrepanz zwischen Polizei- und Veranstalterzahlern vorlagen. Auch die Zahlen der AfD-Demo wurden übrigens von der Polizei übernommen, hier scheint sich offenbar der umgekehrte Fehlerteufel eingeschlichen zu haben: Die taz analysiert etwa, dass die kursierenden Zahlen die AfD überschätzten würden (die Polizei sprach von 5.000, die AfD von 8.000 Teilnehmer*innen). Dennoch: Oben beschriebenes gilt natürlich auch für diese Zahlen.

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7 Antworten zu “Warum übernehmen wir Medien die Zahlen der Polizei 1:1 und riskieren, die Realität zu verzerren?”

  1. Das nicht sorgfältig recherchiert wird, passiert immer häufiger. Die Artikel sind zu einseitig und kaum objektiv. Ich empfinde es als manipulativ. Das entspricht nicht meiner Erwartung von gutem Journalismus.

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  2. Wie deutsche Journalisten teilweise recherchieren kenne ich als Sportschütze leider nur zu gut. Fakten werden so verdreht, bzw. weggelassen bis der Bericht mit der Realität zwar nichts mehr zutun hat, aber eben die eigene Meinung stützt. Man kennt das auch von der AFD…
    Teilweise wird zum Thema Waffenrecht ein so hanebüchener Unsinn geschrieben, dass es einem Sachkundigen Schmerzen bereitet diesen Quatsch zu lesen. Darüberhinaus werden Menschen als potenzielle Mörder/Amokläufer dargestellt! Einen wirklich neutralen, ordentlich recherchierten Bericht habe ich leider noch nie gelesen oder gesehen, was wirklich schade ist, denn durch diese Berichterstattung werden die Fronten nur noch weiter verhärtet und ein Dialog schon im Keim erstickt!
    Davon abgesehen frage ich mich regelmäßig, ob und wie weit kann ich dem Journalismus trauen?
    Mit dem Thema Legalwaffenbesitz kenne ich mich sehr gut aus weil es mein Hobby ist, hier merke ich sofort wenn Fakten verdreht oder verschwiegen werden….nur, wie sieht es mit Themen aus bei denen mit die Sachkenntnis fehlt? Was kann ich noch glauben wenn ich davon ausgehen muss, dass entweder tendenziös berichtet oder schlampig recherchiert wurde…
    Meiner Meinung nach stecken wir journalistisch ganz schön in der Klemme, denn wie soll man das noch in den Griff bekommen?

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  3. Man darf auch nicht vergessen, dass die Polizei in vielen Fällen nicht nur Ordnungsmacht, sondern auch selbst (politischer) Akteur ist. Die Zahlen der Polizei verfolgen also häufig eigene politische Interessen.

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